Ein Musiker lernt das Hören neu
Musik ist sein Leben – immer schon. Umso dramatischer war es, als das Gehör schwächer wurde, bis irgendwann auch moderne Hörgeräte nicht mehr halfen. Im CI-Zentrum Stuttgart wird Markus Metzger schließlich ein Cochlea Implantat eingesetzt, mit dem er wieder hören lernt. Einige Monate später steht er wieder auf der Bühne.
Mit 14 gründete Markus Metzger seine erste Band - heute, 40 Jahre später, blickt er auf ein langes Musikerleben zurück: auf der Bühne, als Komponist, als Produzent und als Musiklehrer mit inzwischen eigener Musikschule. So richtig los ging es für ihn Anfang der 1980er Jahre. Die Neue Deutsche Welle hatte ihren Zenit wohl gerade überschritten. Auch Metzgers Band schwamm auf dieser Welle. Nach einer Reihe von tollen Konzerten jedoch blieben die Fans weg. Die Neue Deutsche Welle war tot. Auch privat gab es Rückschläge. Die früh geschlossene Ehe ging in die Brüche. „Das Jahr 1985 war für mich eine einzige Katastrophe“, erinnert er sich. Und hier – davon ist er überzeugt – liegt auch die Ursache für seine abnehmende Hörfähigkeit. Er erleidet einen Hörsturz, der aber nicht behandelt wird. Mit Ende 20 rät ihm sein Ohrenarzt zu Hörgeräten. „Niemals“ ist damals noch seine Reaktion.
Und Markus Metzger macht weiter mit seiner Musik, spielt in verschiedenen Formationen und mit eigenen Bands. In der Stuttgarter Szene ist der Hard Rocker am Keyboard und am Synthesizer bald eine bekannte Größe. Eine Musikzeitschrift wählt seine Band zu den zehn besten Heavy Metal-Nachwuchsbands in Europa. Aber Markus Metzger steht nicht nur auf der Bühne, er komponiert oder steht am Mischpult und produziert für andere Bands. Zunehmend beeinträchtigt ihn jedoch sein abnehmendes Hörvermögen. „Aber ich wusste ja, wie es klingen musste.“ So loben seine Musikerkollegen die von ihm abgemischte Musik: „Das klingt aber gut!“ Und das blieb auch so, als er sich mit 31 Jahren schließlich doch für Hörgeräte entscheidet. „Mit den Hörgeräten war zunächst wieder alles gut“, berichtet er. „Manches klang zwar anders, aber ich hatte genug Phantasie, mich auf die neuen Höreindrücke einzustellen.“
Metzgers Hörvermögen jedoch nahm zunehmend ab, so dass bald auch moderne, leistungsstarke Hörgeräte nicht mehr alle Hörverluste ausgleichen konnten. „Herr Metzger leidet wahrscheinlich an einem genetischen Defekt, der dazu führt, dass sein Gehör in dramatischem Tempo altert“, urteilt Professor Dr. Assen Koitschev, leitender Oberarzt in der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten, Plastische Operationen des Klinikums Stuttgart. „Der 54-Jährige hat inzwischen das Gehör eines 100-jährigen.“
Ein Auftritt bringt das Umdenken
Seit einiger Zeit schon trug Markus Metzger die Visitenkarte des CI-Zentrums der Stuttgarter HNO-Klinik mit sich herum, die ihm seine Ohrenärztin gegeben hatte. Und auch von den Möglichkeiten eines Cochlea-Implantates hatte er schon gehört. Ein Ereignis bei einem Auftritt lässt ihn schließlich aktiv werden. „Ich sollte am Klavier auf den Rhythmus spielen, den der Schlagzeuger mit dem Ride-Becken vorgab.“ Den hohen Ton des Beckens aber hörte er nicht. „Erst als ein Kollege mir den Rhythmus auf den Oberschenkel klopfte, konnte ich einsetzen.“
Ein erster Untersuchungstermin im CI-Zentrum Stuttgart ergibt, dass ein CochleaImplantat Metzgers Hörverlust ausgleichen könnte. Ob er damit aber wie zuvor Musik machen kann, ist zunächst nicht so ganz klar. Denn mit dem Cochlea Implantat müssen die Patienten nach der Operation wieder neu hören lernen. Das Gehirn muss lernen, die Höreindrücke, die das Implantat liefert, richtig zu interpretieren. „Wir kriegen das hin“, weckt Professor Koitschev Hoffnungen. Metzger erinnert sich: „Der Professor hat das sportlich gesehen, und auch ich hatte natürlich eine hohe Motivation, nicht nur Sprache, sondern Musik ebenfalls wieder möglichst gut hören zu können.“
Wenn wir Geräusche oder Sprache hören, wird der von der Hörmuschel eingefangene Schall über das Mittelohr in das Innenohr weitergeleitet. Hier befindet sich die Hörschnecke, medizinisch Cochlea genannt, mit den Hörsinneszellen, den sogenannten Haarzellen. Sie leiten das Signal an den Hörnerv weiter.
Über die sogenannte Hörbahn gelangt das Signal ins Gehirn bis zur Hörrinde. Erst dort entsteht die bewusste Hörwahrnehmung. Das heißt, erst hier wird das Signal als Sprache, Ton oder Geräusch interpretiert. Das Cochlea-Implantat (CI) ersetzt die Funktion des Innenohres. Im Rahmen einer Operation werden eine Elektrode in die Hörschnecke und ein Empfänger hinter dem Ohr unter die Haut implantiert. Das Mikrofon eines Sprachprozessors wandelt den Schall in digitale Signale um und sendet sie an das Implantat. Als elektrische Impulse werden die Signale über die Elektrode an die Hörnerven geleitet und gelangen so in die Hörrinde im Gehirn. Die CI-Operation ist praktisch in jedem Alter und bei Kindern bereits im ersten Lebensjahr möglich.
Auch bei Markus Metzger gab es mit der Operation keine Probleme. Nach wenigen Tagen konnte er – versorgt mit einem Cochlea Implantat auf der rechten Seite – die Klinik verlassen. Die erste Zeit nach der OP sei schwierig gewesen, berichtet er. Da das Implantat noch nicht aktiv war, konnte er nur sehr eingeschränkt mit seinem herkömmlichen Hörgerät auf der linken Seite hören. Sechs Wochen lang, bis das Implantat eingeheilt war, musste er sich gedulden. Das CI wurde angepasst, und es begann die Reha-Phase mit dem Hörtraining. Zusammen mit einer Logopädin lernte Markus Metzger das Sprachverstehen. Dass auch Musik wieder einigermaßen so klang wie gewohnt, das brachte er sich selbst bei. „Am Anfang klang eine E-Gitarre für mich ganz schrecklich. Inzwischen ist auch Dark Side of the Moon von Pink Floyd im Auto zu hören wieder ein Genuss.“
Die ersten Cochlea-Implantate (CI) wurden bereits Anfang der 1980er Jahre implantiert. 1984 erhielt in Deutschland der erste erwachsene Patient ein Gerät, 1989 das erste Kind. Die zweite deutsche CIPatientin betreut inzwischen Professor Koitschev, der über viele Jahre Erfahrung mit den Cochlea-Implantaten bei Erwachsenen und Kindern verfügt. „Für einen geübten Operateur ist die Cochlea Implantation heute Standard“, berichtet er. „Allerdings ist die Operation sehr diffizil. Fehler haben große Konsequenzen.“ Deshalb sollten CIOperationen heute ausschließlich an großen Zentren wie dem der HNO-Klinik des Klinikums Stuttgart durchgeführt werden. „Wir operieren in der Klinik regelmäßig Patienten jeden Alters – vom Säugling bis zum älteren Erwachsenen.“
Das Klavier als Gedächtnisstütze
„Herr Metzger ist sehr differenziert in seinem Hörvermögen, das findet man selten. Zusammen mit seinem intensiven Üben hat er sich ungewöhnlich schnell auf das Cochlea Implantat einstellen können“, sagt Professor Koitschev über seinen Patienten. Vor allem am Klavier hat der Musiker geübt, weil er den Tastenanschlägen sehr gut Töne aus seiner Erinnerung zuordnen konnte. Etwa ein halbes Jahr Übung habe es gedauert, bis sein Gehirn die Sprach- und Musiksignale des Implantates gut und richtig interpretierte, er wieder weitgehend normal hören konnte.
Was ihm jedoch fehlt, ist der Raumklang und die Musikfarbe, die vor allem von den tiefen Tönen beeinflusst wird. Das liegt zum einen an den unterschiedlichen Höreindrücken, die er vom Hörgerät links und dem Cochlea-Implantat rechts erhält. „Richtungshören ist damit schwierig.“ Vor allem aber ist das CI technisch nicht in der Lage, die tiefen Frequenzen zwischen 400 und 100 Hertz optimal zu übertragen. „Die Geräte sind, wie herkömmliche Hörgeräte auch, vor allem auf das Sprachverstehen ausgelegt“, erklärt Professor Koitschev. Und das bewegt sich eher in den mittleren und höheren Frequenzbereichen.
Vielleicht, so die Hoffnung, deckt eine CI-Weiterentwicklung irgendwann auch die niedrigen Frequenzbereiche besser ab. Dann würde sich Metzger auch an der linken Seite ein Cochlea Implantat einsetzen lassen.
An das CI-Zentrum des Klinikums Stuttgart bleibt er jedenfalls dauerhaft angebunden. „Wir stellen für unsere Patienten eine lebenslange Betreuung sicher“, erläutert Professor Koitschev. Denn die Geräte müssen nicht nur immer mal nachjustiert werden, das Implantat in direkter Nähe zum Gehirn muss auch immer wieder kontrolliert werden, um Komplikationen wie Infektionen zu verhindern. Im Alltag jedoch sind die inzwischen sehr ausgereiften Geräte problemlos. Selbst Tauchen ist bis 50 Meter Tiefe möglich. Boxen mit möglichen Schlägen gegen den Kopf oder Kopfstöße beim Fußball sind für die CI-Träger allerdings tabu.
„Die Lebenserwartung der CochleaImplantate beträgt heute durchschnittlich 18 Jahre, viele funktionieren auch deutlich länger“ sagt Professor Koitschev. „Wenn wir heute ein einjähriges Kind versorgen, muss das CI voraussichtlich zwei- bis dreimal im Leben gewechselt werden.“
Aktiv wieder beim Musikunterricht
In der normalen Unterhaltung mit Markus Metzger ist heute nichts mehr zu spüren von seiner dramatischen Hörbeeinträchtigung. „Ich muss kaum noch nachfragen, weil ich etwas nicht verstanden habe“, sagt er auch selbst. In seiner Musikschule „Keynote“ im Waiblinger Teilort Bittenfeld unterrichtet er wieder Schülerinnen und Schüler an Klavier und Keyboard. Und die Proben mit der Ulmer-Hochschulband, in der er Keyboard spielt, haben ihm ein schönes Erfolgserlebnis beschert: „Beim Robbie Williams-Titel ‚Let me entertain you‘ muss ich auf eine Beckenfigur spielen. Ohne Cochlea Implantat haben wir uns damit beholfen, dass der Schlagzeuger den Rhythmus parallel mit der Bass-Drum gespielt hat. Denn die habe ich gehört. Kürzlich war ich wieder im Probenraum – dieses Mal hat er beim Robbie Williams-Titel die Bass Drum für mich vergessen, aber ich habe das Becken problemlos gehört. Irgendwann ist das den Kollegen sehr überrascht aufgefallen.“