Endlich wieder frei atmen
Narben nach einer Verletzung der Luftröhre führten bei dem vierjährigen Simon zu einer lebensbedrohlichen Atemwegsverengung. In der HNO-Klinik des Olgahospitals wurde die Stenose erfolgreich operiert. Nun kann er wieder mit seinem Zwillingsbruder herumtollen.
Die Arche im Eingangsbereich des Olgahospitals hat es Simon angetan. Neugierig betritt er den Innenraum des großen Spielschiffs und versucht gleich, die Leiter auf die nächste Ebene zu erklimmen, was mit Papas Hilfe schließlich auch klappt. Oben am Steuerrad ist der quirlige Vierjährige dann der Kapitän, der das Schiff mit kräftigen Bewegungen lenkt. Vor der Röhrenrutsche, die vom Oberdeck wieder nach unten führt, hat er aber dann doch Respekt. Also muss der Reporter ran. Zusammen geht es die Rutsche hinunter, wo unten schon der Papa wartet. Und dann aber gleich noch einmal und noch einmal … bis der Papa sagt, dass es Zeit für die Heimfahrt ist. Da lässt sich Simon nicht zweimal bitten, denn die Mama zuhause und Valentin, seinen Zwillingsbruder, vermisst er schon die ganze Zeit, die er wieder in der Kinderklinik sein musste.
Dass Simon wieder so unbeschwert spielen kann, war lange Zeit in Frage gestellt. Während sein zweieiiger Zwillingsbruder kerngesund auf die Welt kam, wurde Simon mit einem schweren Herzfehler geboren, der aber durch die moderne Kinderherzchirurgie heute behoben werden konnte. Allerdings musste der kleine Simon dazu gleich nach der Geburt das erste Mal am Herzen operiert werden. Zwei weitere Herzoperationen im Abstand von mehreren Monaten schlossen sich an. „Für die Familie war das eine sehr schwere Zeit“, berichtet Simons Vater.
Bei der letzten Operation jedoch war es durch die Intubation, die für die zehntägige Beatmung auf der Intensivstation nötig war, zu einer nicht ungewöhnlichen Komplikation gekommen. Die Luftröhre war verletzt worden und diese Verletzungen bildeten Narben, die die Luftröhre einengten. Es bildete sich eine sogenannte Atemwegsstenose. Schließlich bekam Simon nicht mehr genügend Luft. „Er wurde ganz blau und bekam Schweißperlen auf der Stirn. Das war schon sehr bedrohlich“, schildert der Vater die kritische Situation. Der Notarzt wurde gerufen und dann ging es mit Blaulicht in die Klinik. Ein Luftröhrenschnitt rettete dem kleinen Jungen einmal mehr das Leben.
„Gerade bei Kindern versucht man , wenn irgend möglich, einen Luftröhrenschnitt zu vermeiden. In einer so dramatischen Notsituation ist ein Tracheostoma aber unvermeidlich“, erläutert Professor Dr. Christian Sittel, Ärztlicher Direktor der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten, Plastische Operationen am Klinikum Stuttgart. Eine Kanüle hält dabei den Schnitt in der Luftröhre offen. Für Simon bedeutete die Kanüle im Hals, dass es erstmal vorbei war mit dem Rumtoben mit seinem Bruder. Schwimmbadbesuche waren ebenso gestrichen. Zudem ist auch das Schlucken schwierig. Vor allem aber verhindert die Kanüle das Sprechen. Gut ein Jahr quälte sich Simon mit dem Tracheostoma herum. Es schien keine Möglichkeit zu geben, die Ursache, die Verengung der Luftröhre, zu beseitigen.
Schließlich erhielten Simons Eltern den Tipp, sich an Professor Sittel in Stuttgart zu wenden. Der Ärztliche Direktor der HNO-Klinik am Klinikum Stuttgart gilt als Spezialist für die Behandlung von Atemwegsstenosen vor allem auch bei Kindern. Nach einer Tracheoskopie, der Untersuchung der Luftröhre mit einem Endoskop, urteilte Professor Sittel, dass die Beseitigung der Atemwegsstenose durch eine Operation möglich ist. „Wir haben zu Professor Sittel und seinen Fähigkeiten gleich Vertrauen gefasst“, berichtet Simons Vater. Klar war aber auch, dass die an sich schon komplizierte Operation durch Simons Vorgeschichte mit seinem angeborenen Herzfehler das Team um Professor Sittel sowie die Anästhesisten und die hinzugezogenen Kinderkardiologen vor besondere Herausforderungen stellte.
Erkrankungen und auch Vernarbungen nach Intubation, die wie bei Simon zu einer Atemwegsstenose führen, sind insbesondere bei Kindern relativ selten, berichtet Professor Sittel, der inzwischen rund 450 Atemwegsstenosen operiert hat, seit er 2008 als Ärztlicher Direktor ans Klinikum Stuttgart kam. Damit ist Stuttgart eines der großen Zentren Europas auf diesem Gebiet, neben den Kliniken in London, Paris und Lausanne. Professor Sittels Patienten kommen aus ganz Deutschland, als Vorstandsmitglied der Europäischen Fachgesellschaft für Kinder-HNO steht er im engen Austausch mit Kollegen aus der ganzen Welt.
„Atemwegsstenosen sind sehr unterschiedlich und sehr individuell“, erläutert er. „Deshalb ist zunächst eine differenzierte Diagnostik nötig, um anschließend die geeignete Operationstechnik auswählen zu können. Dabei gibt es kaum Standardverfahren, aber eine große Vielfalt der operativen Möglichkeiten.“ Die Operation selbst müsse dann mit höchster Präzision ausgeführt werden, damit keine Narben entstehen, die zu einer erneuten Stenose führen. In den meisten Fällen werden die Engstellen in der Luftröhre heute entfernt. Die Ärzte sprechen von einer Resektion der Stenose. Die Luftröhre wird anschließend neu an den Kehlkopf angeschlossen.
Eine besondere Schwierigkeit stellt der Ringknorpel dar, der die Basis des Kehlkopfes bildet. Erst Mitte der 80erJahre trauten sich HNO-Ärzte erstmals daran, den Ringknorpel bei Erwachsenen zu operieren. „Bei Kindern vermutetet man zunächst, dass wegen des weiteren Wachstums eine Operation des Ringknorpels nicht möglich sei.“ Seit Mitte der 90er Jahre wird auch der Ringknorpel von Kindern operiert, um eine Stenose in diesem Bereich zu beseitigen.
„Als einziger Abschnitt besteht der Ringknorpel vollständig aus Knorpel und weist im Atemweg den geringsten Durchmesser auf“, erklärt Professor Sittel. Entsprechend rasch wirkt sich hier eine Verengung aus. Beim vierjährigen Simon zeigte schon die diagnostische Endoskopie, das es sich um einen besonders schweren Fall handelt, so Professor Sittel: „Die Narben hatten nicht nur den Ringknorpel am Übergang vom Kehlkopf zur Luftröhre fast vollständig verschlossen, sondern fixierten auch die unmittelbar darüber liegenden Stimmbänder zu einer zusätzlichen Engstelle. Eine solche langstreckige Multilevelstenose erfordert ein kombiniertes Vorgehen: Die Engstelle unterhalb der Stimmlippen wird vollständig entfernt, die Luftröhre wird dann in einer speziellen Technik neu an den Kehlkopf angeschlossen. Gleichzeitig werden Transplantate aus patienteneigenem Rippenknorpel verwendet, um auf Ebene der Stimmbänder eine Erweiterung zu erreichen.“ Diese erweiterte cricotracheale Resektion ist die komplexeste und anspruchsvollste Form der operativen Atemwegsrekonstruktion.
Die verengten Anteile des Kehlkopfs (Bild links) und der Luftröhre (Bild Mitte) werden entfernt, der gesunde Teil der Luftröhre wird dann hochgezogen und neu an den Kehlkopf angeschlossen (Bild rechts).
Die Operation in der HNO-Klinik selbst, aber auch die Begleitung durch die Kinderkardiologen und die Versorgung auf der Intensivstation wurden zuvor im Detail geplant. Und dann ging alles ganz schnell. „Telefonisch wurden wir im September informiert, dass Simon drei Tage später operiert werden könnte“, erzählt Simons Vater. „Da haben wir nicht lange überlegt und sind mit ihm nach Stuttgart gefahren.“
Die mehrstündige Operation begann zunächst wie geplant. Nach der Eröffnung von Kehlkopf und Luftröhre stellten sich die ausgedehnten Vernarbungen genauso dar, wie es nach der vorangegangenen Endoskopie erwartet wurde. Eine unangenehme Überraschung gab es allerdings für das OP-Team an anderer Stelle: Das Gewebe um den Luftröhrenschnitt war viel ausgedehnter geschädigt als vorher zu erkennen war. „Das hat uns vor eine der schwierigsten Entscheidungen gestellt, die ich je am Operationstisch zu treffen hatte“, berichtet Professor Sittel.
„Eigentlich sind sich die Experten einig, dass eine erweiterte cricotracheale Resektion nur mit Tracheostoma möglich ist. Die ausgedehnte Operation führt nämlich zu Schwellungen und insbesondere zur Instabilität des Kehlkopfskeletts. Daher wird die Rekonstruktionszone mit einem Platzhalter geschient, die Atmung wird über den Luftröhrenschnitt gesichert. Das Tracheostoma wird dann in einem zweiten Schritt verschlossen, wenn der rekonstruierte Atemweg sicher abgeheilt ist. Bei Simon gingen die narbige Verengung des oberen Atemwegs unmittelbar in die ausgedehnten Defekte über, die bei dem notfallmäßigen Luftröhrenschnitt an den Knorpelringen der Luftröhre verursacht worden waren“, erläuterte Prof. Sittel.
Der Erhalt des bestehenden Tracheostoma war unmöglich, für einen neuen Luftröhrenschnitt war nach der Resektion der besonders langstreckigen Stenose die verbliebene Luftröhre jedoch zu kurz. „Wir waren schon besorgt wegen der ungewöhnlichen Länge des Stückes, das wir aus der Luftröhre entfernen mussten. Technisch kamen wir an die Grenze des Möglichen, die Luftröhre spannungsfrei und sicher wieder an den Kehlkopf anzuschließen. Ein zusätzlicher Luftröhrenschnitt war definitiv ausgeschlossen“.
Es galt zu entscheiden, den Eingriff entweder abzubrechen oder ohne Schienung und ohne Tracheostoma fortzufahren – was eine unfreiwillige Pionierleistung gegen gesichertes medizinisches Wissen bedeutete und die mehrtägige Einlage eines Beatmungstubus unumgänglich machte, was wiederum für Kardiologen und Intensivmediziner wegen des Herzfehlers nicht ganz einfach war. „Eigentlich war vor der Operation besprochen worden, gerade diese Situation unter allen Umständen zu vermeiden. Mit größter Vorsicht, intensiver Überwachung und der sehr guten Zusammenarbeit erfahrener Spezialisten ist das aber gut gelungen.“
Nach fünf Tagen wurde der Beatmungstubus entfernt – und zur grenzenlosen Erleichterung aller Beteiligten atmete Simon stabil und ruhig durch seinen frisch rekonstruierten Atemweg. Allerdings musste Simon dann doch statt der zunächst geplanten zwei Wochen fast vier Wochen im Olgahospital bleiben. „Simon nimmt immer alle Komplikationen mit“, erzählt sein Vater. „Aber er kämpft sich auch immer wieder heraus.“ Natürlich haben die Eltern Simon während der ganzen Zeit im Olgahospital begleitet und gehofft, dass alles gut geht. „In der Klinik wurden wir als Eltern immer ernst genommen und haben auf unsere Fragen immer ehrliche Antworten erhalten. Das hat uns geholfen“, sagt der Vater
Als wir Simon im Dezember treffen, ist er mit seinem Vater für zwei Tage zur Nachuntersuchung wieder im Olgahospital. „Alles ist gut verlaufen und verheilt“, berichtet Oberärztin Dr. Diana Di Dio, die inzwischen Professor Sittel bei der Behandlung von Kindern mit Atemwegsstenosen unterstützt. Lediglich an der heiseren Stimme ist bemerkbar, dass Simons Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen sind. Zwar flüstert er meist, aber immerhin kann er wieder sprechen, sich ausdrücken und mit anderen kommunizieren. „Nach einer solchen Operation ist immer eine Behandlung durch einen Logopäden nötig, um die Stimme und das Sprechen zu üben“, erklärt die Oberärztin. Vor allem aber ist Simon nicht mehr durch das Tracheostoma eingeschränkt und bekommt ganz normal Luft, kann ganz normal ein- und ausatmen durch die nicht mehr verengte Luftröhre.
Einige Tage nach dem Nachuntersuchungstermin schicken die Eltern ein Foto in die Klinik. Es zeigt Simon mit seinem Zwillingsbruder im Schwimmbad – auch das ist jetzt endlich wieder möglich.