Zeitbombe im Kopf
Lange ahnt Jonas D. nicht, welche Gefahr in seinem Gehirn sitzt. Der junge Mann hat ein Angiom (AVM), eine Gefäßmissbildung, die jederzeit lebensbedrohliche Blutungen auslösen kann. Durch eine hochkomplexe Behandlung gelingt es Neurochirurgen und Neuroradiologen am Klinikum Stuttgart, die tickende Bombe zu entschärfen.
Freitagabends im März 2019: Beim letzten Blick in den Spiegel vorm Schlafengehen war Jonas D.s Welt, in diesem Fall sein Gesicht, noch in Ordnung. „Gegen Morgen dann, auf dem Weg ins Bad, ist mir schon aufgefallen, dass ich nicht gut sehe“, berichtet der junge Mann und, dass er sich beim Blick in den Spiegel richtig erschrocken hätte: „Ich habe ausgesehen wie nach einem Boxkampf, ein Auge zugeschwollen, mein Mund und meine Nase waren blutig.“ Da es aber noch sehr früh gewesen sei und er keine Schmerzen gehabt hätte, sei er einfach wieder ins Bett gegangen. „Ich dachte mir, vielleicht bin ich ja aus dem Bett gefallen oder alles ist nur ein schlechter Traum.“ Ein paar Stunden später hat Jonas D. dann mit seinen Eltern telefoniert, ihnen per Handy ein Foto von sich zukommen lassen. „Meine Eltern haben sich total erschrocken und mir klar gemacht, dass ich mich sofort auf den Weg ins Krankenhaus machen soll. Ich selbst bin weiter cool geblieben, habe gedacht, es sieht bestimmt schlimmer aus, als es ist.“
Gefährliche Gefäßmissbildung im Gehirn
Im Krankenhaus in Schwäbisch Hall wurde der damals 25-Jährige gründlich untersucht und eine Computertomographie von seinem Kopf gemacht. „Als die Ärztin dann rein kam und gesagt hat, bitte setzen Sie sich hin, war mir klar, jetzt kommt der Hammer“, erinnert sich Jonas D. und, dass auf der Aufnahme von seinem Kopf „ein großer Bollen“ zu sehen gewesen sei. „Ich weiß noch mein erster Gedanke war: Ist diese Bombe im Kopf ein Gehirntumor???“ Die Ärzte in Schwäbisch Hall versuchten ihn zu beruhigen. Die Geschwulst sei klar abgegrenzt, wahrscheinlich sei sie schon länger da und gutartig, vermutlich ein Angiom (AVM), ein angeborenes Gefäßknäuel aus Blutgefäßen. Und sie informierten ihn, dass die Verletzungen in seinem Gesicht Folge eines epileptischen Anfalls waren. Aber auch, dass die Gefahr, dass es wieder zu einem epileptischen Anfall kommt oder, dass das AVM platzt und es dadurch zu einer Gehirnblutung kommt, relativ hoch sei. Die Ärzte im Krankenhaus Schwäbisch Hall überwiesen Jonas D. deshalb zur Weiterbehandlung an Prof. Dr. Dr. Hans Henkes, Ärztlicher Direktor der Klinik für Neuroradiologie im Klinikum Stuttgart. Jonas D.: „Es hieß, wenn jemand etwas machen kann, dann Prof. Henkes und die anderen Spezialisten im Klinikum Stuttgart.“4
Im Klinikum Stuttgart verschafften sich die Ärzte mithilfe einer Angiographie ein genaues Bild von Jonas D.´s Gehirn. Bei dieser Katheter-Untersuchung werden unter Röntgenkontrolle kleinste Gefäßveränderungen sichtbar. Das Gerät der neuesten Generation im Klinikum Stuttgart ermöglicht sogar eine dreidimensionale „Reise durch die Gefäße“ und das schonend bei einer um 30 bis 40 Prozent niedrigeren Strahlenbelastung als bei älteren Geräten.
Die Angiographie bestätigte die Diagnose aus Schwäbisch Hall. Der junge Mann hatte eine 6,5 Zentimeter große Arteriovenöse malformation im linken Schläfenlappen. „Wir haben bei dem Patienten daraufhin unter Röntgenkontrolle zwei Embolisationen durchgeführt, um das Angiom in einem ersten Schritt zu verkleinern“, sagt Prof. Dr. Dr. Hans Henkes. Bei einer Embolisation werden Blutgefäße durch das Einbringen von klebstoffartigen Substanzen verschlossen. Die Zellen werden nicht mehr mit Blut versorgt und sterben ab. Dadurch kann die Durchblutung des Angioms reduziert werden, die Blutungsgefahr verringert sich.
Die Vorstellung war, das AVM erst zu verkleinern und dann operativ zu entfernen. Doch bis es zu der Operation kam, sollten noch eineinhalb Jahre vergehen.
Arteriovenöse malformation (AVM)
Eine Arteriovenöse malformation, auch Angiom genannt, ist eine angeborene Gefäßmissbildung, eine Art Kurzschlussverbindung zwischen Arterien und Venen, vor allem im Gehirn und Rückenmark. Sie kann in allen Hirnregionen auftreten und sich durch Blutungen (ca. 50 Prozent), durch epileptische Anfälle (ca. 30 Prozent) oder durch Auftreten von neurologischen Ausfällen oder Störungen (ca.15 Prozent) bemerkbar machen. In ca. drei bis fünf Prozent der Fälle sind ganz unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen und Migräne zu finden. In den letzten Jahren werden immer häufiger asymptomatische Angiome als Zufallsbefund diagnostiziert, wenn aus den verschiedensten Gründen eine Kernspintomographie-Untersuchung (MRT) des Gehirns vorgenommen wird. Symptomatisch werden in der Regel Jugendliche und jüngere Erwachsene. Etwa die Hälfte der Angiome sind bis zum 30. Lebensjahr des Angiomträgers diagnostiziert, am häufigsten nach stattgefundener Blutung. Ein AVM ist eine sehr seltene Erkrankung, betroffen sind ein bis zwei von 100.000 Personen pro Jahr. Das Risiko, dass es zu einer Blutung durch ein AVM kommt, liegt bei vier Prozent im Jahr. Angiome werden durch endovaskuläre Embolisation, mikrochirurgische Operation und / oder Bestrahlung behandelt, also verkleinert und entfernt.
Eine OP entschärft das Risiko
„Die Wahrscheinlichkeit, dass so ein Angiom platzt, liegt bei vier Prozent im Jahr. Ich habe das dann hochgerechnet und bin schnell zu der Erkenntnis gekommen, dass es fraglich ist, dass ich damit alt werde“, sagt Jonas D., der von Beruf Projektmanager in der Verpackungsindustrie ist und sich selbst als rational denkenden Menschen bezeichnet. Prof. Dr. Dr. Henkes habe ihm Mut gemacht, alle Optionen aufgezeigt und ihm geraten, die Operation zu wagen. Trotzdem konnte er sich nach den Embolisationen nicht gleich für eine Operation entscheiden. „Ich dachte mir, wenn etwas schief geht, ist bei mir das Sprachzentrum im Gehirn betroffen, vielleicht kann ich dann nicht mehr sprechen, nicht mehr lesen…“ Jonas D. holte sich eine Zweitmeinung ein und beschloss, das Angiom in einer Klinik in Frankfurt/Oder erst einmal bestrahlen zu lassen – in der Hoffnung, es dadurch weiter zu verkleinern. Die Krux an der Sache: Ob die Bestrahlung das gewünschte Ergebnis bringt, würde sich erst nach frühestens zwei Jahren zeigen. Also war für den Mann aus einer kleinen Gemeinde im Landkreis Schwäbisch Hall nach der Bestrahlung erst einmal Warten angesagt. Er flog in den Urlaub, ging wieder Arbeiten – immer im Bewusstsein eine „tickende Zeitbombe“ im Kopf zu haben. Jonas D.: „Als junger Mensch macht man sich normalerweise nicht so viel Gedanken, dass man sterben könnte. Ein Schulkamerad von mir war aber schon an Krebs gestorben, mir war dadurch auch sehr bewusst, dass das Leben schnell enden kann.“
Im Mai 2020 bekam Jonas D. beim Sport auf einmal stechende Kopfschmerzen, genau an der Stelle, an der sich das Angiom befand. Als am nächsten Tag die Kopfschmerzen noch nicht besser waren und er auch noch spucken musste, fuhren ihn seine Eltern ins Stuttgarter Klinikum. „Die Untersuchung ergab leider, dass das AVM weiterhin relevant durchblutet war und es bei dem Patient zu einer kleinen Gehirnblutung gekommen war“, sagt Prof. Dr. Dr. Henkes. Dabei hatte Jonas D. noch Glück im Unglück, denn die Gehirnblutung hätte bei ihm auch zu neurologischen Ausfällen wie Sprachstörungen oder einer Behinderung führen können. „Herr Henkes hat mir immer offen seine Meinung gesagt, aber mir gleichzeitig auch immer Hoffnung gemacht, so auch nach der Gehirnblutung“, sagt Jonas D. Er führte auch Gespräche mit Prof. Dr. Oliver Ganslandt, Ärztlicher Direktor der Neurochirurgischen Klinik sowie Oberarzt Dr. Peter Kurucz, Leiter des Schwerpunkts vaskuläre Neurochirurgie. Nach Abwägung des OP-Risikos versus des Risikos einer erneuten Gehirnblutung entschied Jonas D., den mikrochirurgischen Eingriff zur Entfernung des Angioms doch zu wagen.
Bei einer mikrochirurgischen Operation eines AVM im Klinikum Stuttgart wird unter Zuhilfenahme der modernsten Neuronavigation (computergestütztes Verfahren zur millimetergenauen Orientierung während einer Operation am Gehirn), intraoperativem neurophysiologischem Monitoring sowie mit modernstem, semi-robotischem Operationsmikroskop und Endoskop das gefährliche Gefäßknäuel komplett entfernt. Durch die gezielte Schädeleröffung wird das Angiom schonend freigelegt, jedes einzelne zuführende Gefäß verschlossen und anschließend das nicht mehr durchblutete Gefäßknäuel entfernt. Die Resektionskontrolle erfolgt während der Operation mittels in dem Operationsmikroskop ebenfalls integrierte ICG-Angiographie. Abhängig von der Größe und Komplexität des Angioms können diese Eingriffe weit über zehn Stunden dauern und zählen zu den komplexesten Operationen am menschlichen Hirn. Sie erfordern besonders hohe technische und menschliche Fertigkeiten des gesamten Behandlungsteams.
Neurochirurgie und Neuroradiologie
Nachdem die Blutung sich zurückgebildet hatte und das Angiom in einer erneuten Embolisation weiter verkleinert worden war, wurde Jonas D. von Dr. Peter Kurucz operiert. Hirngefäßoperationen sind das Spezialgebiet des Oberarztes. Der komplexe Eingriff erfolgte in drei Sitzungen. „Bleibt auch nur ein kleiner Rest des AVM im Gehirn, kann es wieder zu einer Blutung kommen“, informiert Oberarzt Dr. Kurucz. Zwischen den Operationen verkleinerte Prof. Dr. Dr. Henkes das Angiom weiter durch endovaskuläre Eingriffe. „Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Kliniken war und ist ausgezeichnet“, heben Prof. Dr. Ganslandt und Prof. Dr. Dr. Henkes hervor. Dadurch könnten auch Patienten wie Jonas D. erfolgreich behandelt und geheilt werden.
Sorgenfrei in die Zukunft
Jonas D. erinnert sich gut an seine Gefühle direkt vor und nach den Operationen: „Letztendlich war ich doch zuversichtlich, dass alles gut geht, dass ich die Chance habe, vollständig geheilt zu werden.“ Nach den Operationen hätte er immer als erstes getestet, ob mit seinem Sprachzentrum noch alles stimmt, also ob er noch sprechen und lesen könne. Die Nachricht nach der dritten Operation, dass das Angiom nun vollständig entfernt werden konnte, überbrachte der Operateur, Oberarzt Dr. Kurucz dem Patienten. „Es ist alles raus, hat Dr. Kurucz zu mir gesagt. Ich habe ein paar Wochen gebraucht, um das auch glauben zu können.“
Jonas D. hat großen Respekt vor der Arbeit der Ärzte: „Hut ab, das war ein riskanter Move.“ Der inzwischen 28-Jährige muss zwar noch zur Nachsorge ins Klinikum Stuttgart kommen, kann aber ansonsten wieder ganz normal leben. „Ich beschäftige mich gern mit Aktien. Trotz der großen Unsicherheit habe ich nie meinen Mut und meine Zuversicht verloren, habe an meinen langfristigen Plänen festgehalten und weiter investiert.“ Und wie man sieht, war die Entscheidung richtig. Dank der erfolgreichen Behandlung im Klinikum Stuttgart kann Jonas D. jetzt wieder sorgenfrei in die Zukunft schauen.