Auf die Beine zurückgekämpft
Bei einem folgenschweren Sturz wird Walter Schäfers Halswirbelsäule verletzt. Er ist praktisch querschnittgelähmt. Im Katharinenhospital wird er operiert, die Wirbelsäule stabilisiert. Und dann kämpft sich Walter Schäfer wieder auf die Beine – mit eiserner Disziplin und dem klaren Ziel, wieder laufen zu können.
An einem Spätsommertag Ende September 2016 macht sich der 77-jährige Walter Schäfer am frühen Nachmittag auf den Weg in sein kleines Jagdrevier bei Böblingen. Einen Hochsitz will er reparieren. Der liegt ein wenig abseits vom Weg, aber mit seinem Allrad-Pkw kommt er ziemlich nah heran. Als die Reparatur erledigt ist, steigt er noch einmal hinauf und da passiert es: Der Hochsitz bricht ein und begräbt den passionierten Jäger unter sich. „Ich war eingeklemmt und konnte mich nicht bewegen“, berichtet er. Zunächst versuchte er um Hilfe zu rufen. „Ich habe mir aber bald klar gemacht, dass der nächste Weg viel zu weit entfernt ist, als dass mich jemand hören konnte. Also habe ich meine Kräfte lieber geschont.“ Nach einiger Zeit hörte er sein Handy klingeln, das ihm beim Sturz aus der Tasche gerutscht war und das nun unerreichbar einige Meter entfernt liegt. Seine Frau wollte hören, wo er bleibt, und versuchte ihn zu erreichen. Irgendwann wird es dunkel und auch merklich kühler.
Gegen 20.30 Uhr, nachdem er dreieinhalb Stunden eingeklemmt auf dem Waldboden gelegen hatte, kam schließlich Hilfe. „Meine Frau wusste ungefähr, wo ich den Hochsitz reparieren wollte, und hat meinen Sohn losgeschickt, nach mir zu schauen.“ Der Sohn, der ihn schließlich findet, macht alles richtig: Er versucht gar nicht erst, den Vater unter dem Hochsitz hervorzuziehen oder ihn zu bewegen. Er ruft den Notarzt und fährt zurück zum Waldrand, um die Rettungssanitäter und den Arzt einzuweisen. Der Notarzt kümmert sich um die Erstversorgung, aber dann muss die Feuerwehr ran, um den schweren Hochsitz anzuheben und Walter Schäfer zu befreien.
„Ihnen wurde gerade ein zweites Leben geschenkt“, sagt der Notarzt. Ein Satz, der Walter Schäfer erstmals deutlich macht, wie sehr sein Leben am seidenen Faden gehangen hatte. Zunächst bringt ihn der Notarztwagen ins Krankenhaus nach Leonberg. Schnell ist klar: Hier kann er nicht ausreichend versorgt werden, so wird er in die Unfallchirurgie nach Sindelfingen verlegt. „Hier haben sie mich am nächsten Mittag nochmal in die Röhre geschoben und dann ging alles ganz schnell.“ Es müsse dringend die Verletzung der Halswirbelsäule operiert werden, hieß es, und so kommt er in die Neurochirurgische Klinik im Katharinenhospital.
Hier untersucht ihn Oberarzt Dr. Gottlieb Maier ausführlich. Die spinale Neurochirurgie ist das Spezialgebiet des Oberarztes. „Herr Schäfer hatte schon vor dem Unfall eine chronische Spinalkanalstenose“, berichtet Dr. Maier. Diese Einengung des Rückenmarkkanals bleibt häufig lange unbemerkt und wird oft erst zum Beispiel durch einen Unfall deutlich - wie bei Walter Schäfer. Der fünfte und sechste Halswirbel waren gebrochen, die Bandscheibe dazwischen zerstört. Durch die Verletzung der Halswirbelsäule war das Rückenmark geschädigt. „Herr Schäfer hatte ausgeprägte neurologische Störungen, konnte die Beine und den Arm nicht bewegen.“ Dr. Maier entschied, nicht abzuwarten, sondern gleich zu operieren: „Ziel war es vor allem, die Engstelle rasch zu beseitigen, die auf das Rückenmark drückte.“ Er entfernte die völlig zerstörte Bandscheibe in der Halswirbelsäule und ersetzte sie durch ein sogenanntes Interponat, ein Zwischenstück aus Kunststoff. Außerdem stabilisierte er den fünften und sechsten Halswirbel mit einer Titanplatte und Schrauben.
„Eine derartige Verletzung sollte möglichst innerhalb von 24 Stunden operiert werden“, erklärt Dr. Maier. Im Spine Center des Klinikums Stuttgart arbeitet der Neurochirurg interdisziplinär mit den Kollegen aus der Unfallchirurgie und Orthopädie sowie der Kinderorthopädie zusammen. So wird das Know-how in der Behandlung von Rückenmarks- und Wirbelsäulenverletzungen optimal gebündelt und Erfahrungen geteilt.
Nach der Operation waren die neurologischen Einschränkungen bei seinem Patienten zunächst kaum besser. „In Anbetracht der schweren Verletzung und des Patientenalters war das auch nicht zu erwarten.“ Nach wie vor konnte Walter Schäfer die Beine nicht bewegen und seine Hände nicht benutzen. Bei der Kontrolle des Operationsergebnisses jedoch sah das schon deutlich besser aus. Ein Jahr nach der Operation, im Oktober 2017, überraschte der inzwischen 78-Jährige seinen Arzt damit, dass er ihm auf den eigenen Beinen ohne Unterstützung entgegenkam. „Er hat alles dafür getan, wieder auf die Beine zu kommen“, berichtet Dr. Maier. „Trotz des hohen Alters hat er es geschafft, mit einer guten Prognose für seine Selbständigkeit.“
Der Weg dorthin aber war mühsam und langwierig, wie Walter Schäfer heute erzählt. Dr. Maier hatte ihm ziemlich offen und direkt gesagt wie es um ihn steht: „Ich glaube Sie haben noch nicht realisiert, dass Sie querschnittgelähmt sind“, erinnert er sich an die Worte des Arztes, die zunächst ein Schock waren. Nach zehn Tagen im Katharinenhospital wird er zur weiteren Behandlung in das Querschnittgelähmtenzentrum der Universitätsklinik Ulm verlegt. Nicht mal die Zehen kann er bewegen, die Arme gehorchen ihm, nicht aber die Hände. An selbständiges Essen ist nicht zu denken. „Inkompletter Querschnitt“ lautet die Diagnose, von der Taille abwärts ist er gelähmt. Abfinden will er sich damit nicht. So trainiert er jeden Tag mit den Physiotherapeuten der Klinik, später mit dem Gangroboter und im Wasser, wo Bewegungen ungleich leichter fallen. „Es ging alles sehr langsam und niemand konnte mir konkret sagen, welche Verbesserungen möglich sind.“ Und es geht nur in sehr kleinen Schritten vorwärts. Als er die Zehen wieder bewegen kann, ist das ein erster Erfolg, den er stolz seiner Frau zeigt. Jeden Tag kommt eine Ergotherapeutin, die seine Hände behandelt, sie zur Faust verklebt und wieder öffnet. Bis er wieder greifen und schließlich auch ohne Hilfe essen kann.
Nach vier Monaten in Ulm war er soweit, dass er zur weiteren Rehabilitation in die Schmieder Klinik nach Gailingen verlegt werden konnte. Seine Frau, die ihn in Ulm regelmäßig besucht hatte, konnte in der Reha-Klinik nun bei ihm bleiben. Als er jedoch den Therapieplan sieht, ist ihm das zu wenig. Erfolgreich fordert er mehr Therapiesitzungen ein, und nach drei Monaten in Gailingen steht er wieder auf den eigenen Beinen. „Beim Abschlussgespräch hat mir der behandelnde Arzt geraten, jeden Tag in Begleitung das Laufen zu üben.“ Ein Rat, den Walter Schäfer seitdem konsequent befolgt.
Täglich kommt ein Mitarbeiter aus dem Familienunternehmen, das Walter Schäfer vor einigen Jahren an seinen Sohn übergeben hat, und unterstützt ihn beim Laufen üben. In der Wohnung wurden Geländer an den Wänden angebracht, an denen er sich halten kann und ein Treppenlift bringt ihn in den ersten Stock. Im Gartenhaus hat er einen Turnbarren aufstellen lassen, zwischen dessen Holmen er ebenfalls sicher laufen kann. Inzwischen schafft er ohne Gehwagen oder Stock eine 50 Meter-Strecke zwischen zwei Stühlen, ruht sich kurz aus und dann geht es wieder zurück. Außerdem steht von Montag bis Freitag täglich Physiotherapie auf dem Programm. So hat er seinen Radius immer weiter gesteigert. In der Wohnung kann er sich inzwischen wieder gut bewegen, meist auf einen Stock gestützt, oft aber auch ganz freihändig. Selbst Treppen sind inzwischen kein Problem mehr. „Wichtig ist, dass immer jemand dabei ist. Das gibt mir Sicherheit.“
Im Rückblick habe es schon auch Stunden gegeben, wo es schwer war. Und auch der Unfall selbst geht ihm noch nach: „Das kann sich niemand vorstellen, wie schlimm das war, dort im Wald so lange zu liegen.“ Dass er das alles auch psychisch so gut überstanden hat, darüber ist er froh. „Ich konnte mir nicht leisten, in ein Loch zu fallen.“ Er sei halt nicht so schnell klein zu kriegen. Zudem habe ihm seine Frau Isolde sehr geholfen in all den Monaten. Schon am ersten Tag nach dem Unfall hatte sie gesagt: „Wir schauen nicht zurück, wie schauen nur nach vorn!“ So hat sich Walter Schäfer Stück für Stück Selbständigkeit und Normalität zurückerkämpft. Für den Mai hat das Ehepaar Schäfer Urlaub in Oberstdorf gebucht, in einem barrierefreien Hotel. Und so gibt es auch immer noch Ziele, die es zu erreichen gilt: wieder selbst Autofahren zum Beispiel. Fahren mit Automatik ist sicher kein Problem. Im Moment besteht die Schwierigkeit noch darin, ins Auto hineinzukommen. Aber das wird ihm ohne Zweifel bald auch noch gelingen.