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Eine Liebe aus schwieriger Zeit

Den Türcode zur kinderonkologischen Station im Olgahospital am alten Standort in der Bismarckstraße im Stuttgarter Westen haben Tanja und Siegfried Weiss noch gut in Erinnerung. Die Krebserkrankung im Jugendalter und der Aufenthalt auf der Station K1 haben beide für ihr ganzes Leben geprägt. 

Im Juni 1990 wird bei der damals 15-jährigen Tanja Weiss ein Tumor im Oberschenkel diagnostiziert. „Es war eine Beule im Bein, die nicht wehgetan hat. Ich habe an eine Zerrung gedacht, aber nicht an Krebs. Mit 15 glaubt man, dass nur ältere Menschen an Krebs erkranken“, sagt sie heute. Ihr Hausarzt überweist sie ins Olgäle. Dort wird sie unter anderem von Professor Ewa Koscielniak untersucht. Professor Koscielniak ist Expertin für Weichteilsarkome und leitet die CWS-Studiengruppe. Dieser internationale Zusammenschluss von Medizinern erforscht die Therapie von Weichteilsarkomen bei Kindern – bis heute mit dem Sitz der Studienzentrale am Olgahospital.

Eine Biopsie bringt Gewissheit

In Erinnerung bleiben Tanja Weiss nur die vielen Fremdwörter, die im Gespräch mit der Ärztin auf sie einprasseln. Verstehen, was gerade passiert und wie ernst die Situation ist, kann sie damals nicht. „Wir haben nur gehofft, dass der Tumor nicht bösartig ist.“ Zunächst ist unklar, um was für einen Tumor es sich handelt. Eine Biopsie bringt die Gewissheit: das Osteosarkom, auch Knochenkrebs genannt, ist bösartig. Rund vier Wochen nach der Untersuchung bei ihrem Hausarzt beginnt die Chemotherapie. 

Professionalisierung und Spezialisierung

Die 15-Jährige bezieht ein Zimmer auf der Station K1 im alten Olgahospital im Stuttgarter Westen und freut sich über die Annehmlichkeiten: ein freundlich und hell eingerichtetes Zimmer mit eigenem Fernseher samt Videorekorder und ein Telefon in Gestalt einer Mickey Maus. So geht es auch Siegfried Weiss, als er im April 1988 seine Chemotherapie beginnt. „Es hat sich ein bisschen wie Urlaub angefühlt. Endlich ein eigenes Zimmer mit Fernseher“, sagt er. Doch mit Urlaub hat auch sein Aufenthalt wenig zu tun, denn die Diagnose lautet: Rhabdomyosarkom. Bei ihm handelt es sich um ein bösartiges Geschwür am Gaumen. Festgestellt wird es, als ihm die Polypen entfernt werden sollen. „Ich war sehr verschleimt, müde und habe abgenommen. Zudem haben sich meine Noten verschlechtert.“ Aber an Krebs denkt da niemand. Erst eine Gewebeprobe bringt Klarheit. 

Die verschiedenen Zyklen der Chemotherapie beschreiben die beiden auch heute noch als Tortur. Starkes und häufiges Erbrechen gehören ebenso dazu wie Haarausfall und extreme Abgeschlagenheit. Tanja nimmt irgendwann auf eigene Verantwortung ein noch nicht zugelassenes Medikament gegen Übelkeit und Erbrechen. Hinzu kommen die schmerzenden und vernarbten Venen. Um die verschiedenen Medikamente zu verabreichen, müssen die Ärzte und Pfleger immer wieder neue Zugänge legen. 

Auch Professor Dr. Stefan Bielack kann sich noch gut an die Zeit vor 30 Jahren erinnern. „Zum Glück gibt es nun viel bessere Medikamente gegen die starke Übelkeit und das Erbrechen“, sagt er. Zudem bekommen die Kinder heute einen sogenannten Portkatheter gelegt. Über diesen dauerhaften Zugang können Medikamente und Infusionen weitgehend schmerzfrei verabreicht werden, und es entstehen keine Vernarbungen an den Armen. Seit 2005 leitet Professor Bielack die Pädiatrie 5 – Onkologie, Hämatologie und Immunologie am Olgahospital im Klinikum Stuttgart.

In den 30 Jahren ihres Bestehens hat die Kinderonkologie am Olgahospital große Fortschritte in der Therapie erreicht. Dazu gehören neben den Antiemetika, Medikamenten gegen Erbrechen, und den Portkathetern auch umfassende Konzepte für den Umgang und die Dosierung der Medikamente. Grundlage hierfür ist bei einigen Erkrankungen mittlerweile die sogenannte Tumorbiologie, mit deren Hilfe der genetische Bausatz des Tumors analysiert werden kann. „Die genaue Kenntnis der Genetik des Tumors hilft uns in diesen Fällen, Ansatzpunkte für die passende Therapie zu finden und den Tumor gezielt anzugreifen“, sagt Professor Bielack. 

Neben der medikamentösen Therapie müssen sich einige Kinder zusätzlich einer Operation und Bestrahlung unterziehen, wie zum Beispiel bei den Knochen- und Weichteilsarkomen. Gemeinsam mit Professor Dr. Thomas Wirth, Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Klinik am Olgahospital, Professor Dr. Steffan Loff, Ärztlicher Direktor der Kinderchirurgie am Olgahospital, Professor Dr. Marc Münter, Ärztlicher Direktor der Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie am Katharinenhospital, PD Dr. Thekla von Kalle, Ärztliche Direktorin des Radiologischen Instituts am Olgahospital, und vielen weiteren wichtigen in- und externen Partnern hat Professor Bielack die Therapie von Knochen- und Weichteiltumoren am Olgahospital zu einem Schwerpunkt mit internationalem Renommee ausgebaut. Die Klinik ist Referenzzentrum für Knochenund Weichteilsarkome (COSS & CWS). Dort werden neue Therapieansätze entwickelt und die Ursachen der Erkrankung erforscht. Diese Ergebnisse kommen den Patienten im Olgäle zu Gute.

Vor 30 Jahren wurde die Kinderonkologie als eigenständige Station im Olgäle gegründet und die Behandlung der Kinder ausgebaut und professionalisiert – ein Glücksfall für die beiden Patienten Tanja und Siegfried. Dazu entstand im ersten Stock des alten Krankenhauses die Station K1 inklusive eines pädiatrisch-hämatologischen Speziallabors. Die Leitung übernahm Professor Jörn Treuner. Mit ihm kamen weitere Ärzte nach Stuttgart, unter anderem auch Professor Koscielniak. Sie legt mit der Therapie von Weichteilsarkomen den ersten Schwerpunkt der neugegründeten Station.

Nachdem Tanja die ersten Zyklen der Chemotherapie überstanden hat, steht die Operation an. Kurz vor Weihnachten 1990 wird sie 16 Stunden lang operiert. Der vom Tumor befallene Teil des Oberschenkelknochens wird entfernt und ein Stück vom Wadenbein in den entfernten Teil eingesetzt. Durch diese moderne OP-Technik bleibt Tanja die Amputation erspart. Zwei Monate lang wird sie im Anschluss stationär aufgenommen. Schwach und kraftlos muss ihr Vater sie die Treppen hochtragen. An der Schwelle zum Erwachsenwerden, wird Tanja wieder zum Kind und ist auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. Wegen der Infektionsgefahr darf sie nicht in die Schule.

Siegfried nimmt während der Chemotherapie stark ab. Für die Behandlung sind die Patienten fünf Tage im Olgäle und anschließend zwei bis drei Wochen zuhause. „Während der Chemo habe ich nichts gegessen. Alles riecht und schmeckt anders durch die Medikamente“, sagt er. Erst nach einem Bad zuhause und einem Steak mit Pommes ist der 14-Jährige fit genug, sich in den Chemo-Pausen sein Leben ein Stück zurück zu holen. Er spielt Tennis und Fußball und trifft sich mit seinen Freunden. Für sie trägt er auch eine Perücke. Ein Jahr lang bestimmt der Tumor sein Leben. „Zum Ende hin habe ich angefangen, mit den Ärzten über die Anzahl der Chemotherapien zu verhandeln. Ich hatte Kraft zum Leben, aber keine Kraft mehr für die Chemo“, sagt er. 1989 hat Siegfried die Behandlung abgeschlossen, Tanjas Therapie endet zwei Jahre später.

Durch die vielen Erkenntnisse, die im Laufe der letzten 30 Jahre gewonnen werden konnten, ist die Krebstherapie bei Kindern und Jugendlichen effektiver und dabei oft verträglicher geworden. Dem Team von Professor Bielack stehen heute auch bessere und mehr Medikamente zur Prophylaxe und Therapie von Infektionen durch Bakterien, Viren und Pilze zur Verfügung. Dies ist wichtig, denn durch die Chemotherapie ist das Immunsystem der Patienten stark geschwächt und durch Infektionen hervorgerufene Komplikationen können zum Tod führen. 

Neben der engen klinikumsinternen Zusammenarbeit kooperiert die Pädiatrie 5 mit zahlreichen deutschen und internationalen Kliniken und tauscht Erfahrungen und Protokolle zu Diagnostik und Therapie aus. Zahlreiche Studien zur Erforschung neuer und moderner Therapien werden von Professor Bielack und seinem Team am Olgahospital vorgenommen. Besonders stolz sind sie darauf, dass das Pädiatrisch-Onkologische Zentrum Stuttgart des Klinikum Stuttgart erfolgreich durch die Deutsche Krebsgesellschaft zertifiziert wurde.

Die Erfahrungen der letzten 30 Jahre kommen den heutigen Patienten zu Gute. Bei kleinen Kindern mit einem Gehirntumor versuchen die Experten des Olgäle, die Strahlenintensität bei der Bestrahlung des Kopfes möglichst gering zu halten. Zudem weiß man, dass einige Medikamente der Chemotherapie das Herz belasten und bestimmte Dosen nicht überschritten werden dürfen. „Das Herz verträgt diese Medikamente zudem besser, wenn sie als Infusion über einen längeren Zeitraum verabreicht wird“, sagt der Kinderonkologe. 

Die Heilungsraten liegen bei Leukämien bei 80 Prozent, bei soliden Tumorerkrankungen über 70 Prozent. „Um diese Heilungsraten zu erreichen, müssen wir in der Behandlung weiter an die Grenzen gehen – trotz aller Fortschritte“, sagt Professor Bielack. Er weiß, wie viel er den Kindern, Eltern und Familien damit zumuten muss.

Bei 2.500 Kindern und Jugendlichen in Deutschland lautet jedes Jahr von Neuem die Diagnose Krebs, 80 von ihnen werden am Olgahospital behandelt. Die Hälfte der Kinder und Jugendliche erkrankt an Leukämie und Lymphomen, die anderen an einer Vielzahl weiterer Tumore. Allein bei den sogenannten Sarkomen gibt es etwa 150 verschiedene Ausprägungen der Erkrankung, die einer individuellen Behandlung bedürfen.

Neben der intensiven medizinischen Betreuung ist auch die psychosoziale Betreuung der kleinen Patienten und ihrer Familien ein wichtiger Baustein der Therapie am Klinikum Stuttgart. Das Psychosoziale Team aus Psychologen, Sozialpädagogen, Erzieherinnen, Theater- und Kunsttherapeuten unterstützt die Patienten im Umgang mit ihrer Erkrankung. Nicht wenige dieser Angebote sind nur dank großzügiger Spenden des Förderkreises krebskranke Kinder Stuttgart, der Olgäle-Stiftung, der Aktion „Ein Herz für’s Olgäle“ und zahlreicher weiterer engagierter Unterstützer möglich.

Leben in zwei Welten

Nachdem Tanja und Siegfried Weiss das Krankenhaus verlassen durften ist noch nicht alles gut. Schnell haben sie feststellen müssen, dass nichts mehr ist wie zuvor. Freunde hatten sich abgewendet, gleichzeitig haben sie im Krankenhaus neue Freunde gefunden und mussten auch mit dem Tod einiger dieser Freunde zurechtkommen. „Es waren zwei Welten – einerseits die Schule und die alten Freunde, andererseits das Leben im Olgäle“, erinnert sich Tanja Weiss. Diese Erfahrungen und Erlebnisse hätten sie schneller erwachsen werden lassen, sagen beide heute. Gehadert mit dem Schicksal haben sie nie. „Ohne die Krebserkrankung wäre unser Leben ganz anders verlaufen, und wir hätten uns wahrscheinlich nie kennengelernt“, sagt Siegfried Weiss.

Ehemalige Patienten als Betreuer

Kennengelernt haben sie sich über Prima Klima, eine besondere Ferienfreizeit. Bei dieser Ferienfreizeit verreisen krebskranke und ehemalige krebskranke Kinder gemeinsam. Betreut werden sie von jungen Erwachsenen, die als Kind selbst Patient im Olgäle waren. Seit 1992 gibt es diese besondere Freizeit und Tanja wie auch Siegfried Weiss waren von Anfang an dabei, sie als Teilnehmerin, er als Betreuer. „Unter den Teilnehmern und Betreuern herrscht ein tolles Zusammengehörigkeitsgefühl. Es wurden Freundschaften geknüpft, die bis heute bestehen“, sagt Siegfried Weiss. Bei Tanja und Siegfried ist aus der Freundschaft schließlich eine Partnerschaft geworden. Die beiden haben im Jahr 2002 geheiratet und eine Familie gegründet.

Während dieser Freizeit werden Einschränkungen, wie Krücken oder Rollstuhl, zur Nebensache. Die jüngeren Kinder finden in den älteren Betreuern Vorbilder und sehen, dass man trotz der Erkrankung Abitur und einen Führerschein machen kann. „Die Kinder schöpfen sehr viel Kraft aus Prima Klima. Sie verbringen Zeit außerhalb der Klinik, haben Spaß, lernen dabei aber zugleich fürs Leben und gewinnen neues Selbstvertrauen“, sagt Professor Bielack.

Zehn Jahre lang engagieren sich Tanja und Siegfried Weiss aktiv bei Prima Klima. Und trotz all der Freude und Hoffnung, die alle dabei erfahren, ist auch der Tod ein Teil davon. „Kinder, die ein Jahr zuvor noch dabei waren, haben im nächsten Jahr gefehlt“, sagt Tanja Weiss. Diese Erlebnisse sind es, welche die beiden heute noch, mit Mitte 40, erden und ihnen bewusst machen, was im Leben wirklich wichtig ist.

Auch nachdem sich die beiden über Prima Klima kennen und lieben gelernt haben, ist der Kontakt zu den Teilnehmern und Betreuern, wie dem Sozialpädagogen Ralf Braungart, nie abgebrochen – auch weil die beiden mit ihrer Geschichte Hoffnung geben wollen. Hoffnung für die Kinder, aber auch für die Eltern. Deren Gefühle könne sie erst richtig verstehen, seit sie selbst Mutter ist, sagt Tanja Weiß. Drei gesunde Kinder hat das Ehepaar: AnnaSophie ist 16 Jahre alt, ihr Bruder Felix 13 und der jüngste Jonas ist acht Jahre alt. Komplettiert wird die Familie durch Labrador Barry. Gemeinsam verbringt die Familie viel Zeit bei Spaziergängen im nahe gelegenen Wald. „Ich wollte immer Kinder haben, daran hat auch die Krebserkrankung nichts geändert“, sagt sie. Sie und ihr Mann haben eben niemals mit dem Schicksal gehadert, sondern auf die Zukunft gesetzt.