Hirntumor besiegt
Ein bösartiges ZNS-Lymphom hat sich in Neeles Gehirn eingenistet. Das Klinikum Stuttgart hat weltweit Standards in der Behandlung dieser seltenen Tumorart gesetzt. Unseren Expert:innen gelingt es, die junge Frau zu heilen.
Neele ist eine lebenslustige, junge Frau. Sie spielt gerne Volleyball und hat Spaß mit ihren Freundinnen auszugehen. Doch auf einmal hatte die Schülerin zu all dem keine Lust mehr. Außerdem plagten sie immer wieder Übelkeit und Schwindel. „Da ich die Pille nehme, hat mein Frauenarzt vermutet, dass ich unter einer Depression leide. Aber ich wusste instinktiv, dass etwas anderes dahinter steckt“, erinnert sich die heute 19-Jährige. Dann kam dieser Tag im April, den Neele nie vergessen wird. „Ich war zu Fuß auf dem Weg nach Hause, als ich plötzlich nicht mehr richtig sehen konnte. Aber erst als ich gegen eine Mülltonne gelaufen bin, ist mir klar geworden, dass mein Sichtfeld sehr eingeschränkt ist.“ Endlich zuhause, versuchte sie verzweifelt, ihre Mutter anzurufen. „Es war, als ob jemand mein Gehirn rausgenommen hätte, ich habe immer die falschen Buchstaben ins Display eingetippt. Gott sei Dank gab es aber noch die Autovervollständigung.“ Per Krankenwagen kam die junge Frau aus Leinfelden-Echterdingen dann in ein Stuttgarter Krankenhaus. Dort wurde sie zwei Wochen von Kopf bis Fuß untersucht und für eine Hirnbiopsie in die Neurochirurgie des Klinikum Stuttgart verlegt. Dort wurde die Diagnose gestellt: Ein ZNS-Lymphom, bei dem sich im Gehirn und im Nervenwasser bösartig veränderte Immunzellen ansiedeln, war verantwortlich für die Beschwerden.
Die Klinik für Hämatologie, Onkologie, Stammzellentransplantation und Palliativmedizin ist eine der leistungsfähigsten onkologischen Kliniken in Baden-Württemberg. Neben dem gesamten Spektrum der hämatoonkologischen Diagnostik und Therapie stellen die Behandlung von Lymphomen und Leukämien sowie die Blutstammzelltransplantation einen Schwerpunkt der Klinik dar. Prof. Dr. Gerald Illerhaus, Ärztlicher Direktor der Klinik, ist einer der führenden Spezialisten für ZNS-Lymphome. Mit seiner Studiengruppe hat er seit den 90er-Jahren weltweit Standards in der Behandlung gesetzt.
Zertifiziertes Zentrum für Leukämien und Lymphome
Leukämien und Lymphome gehören zu den bösartigen Erkrankungen des Blutes, der Blutbildung bzw. des lymphatischen Systems. Sie haben ihren Ursprung in den Zellen des Knochenmarks oder des lymphatischen Systems. Die Häufigkeit einiger hämatologischer Erkrankungen wie zum Beispiel die Non-Hodgkin-Lymphome haben in den letzten Jahren immer stärker zugenommen. Die Gründe hierfür sind nicht genau bekannt. Die krankhafte Entwicklung kann in den verschiedenen Reifungsstufen der Zellentwicklung beginnen und sowohl von sehr unreifen sogenannten Vorläuferzellen als auch von reiferen Zellgruppen ausgehen. In Europa erkranken etwa 20 von 100.000 Menschen pro Jahr an einer dieser malignen hämatologischen Neubildungen. Damit sind sie die vierthäufigste bösartige Erkrankung. Diagnose und Therapie dieser Erkrankungen sind hochkomplex und bilden die Schwerpunkte des Zentrums für Leukämien und Lymphome am Klinikum Stuttgart. Das Zentrum für Leukämien und Lymphome ist Teil des Onkologischen Zentrums im Stuttgart Cancer Center (SCC) – Tumorzentrum Eva Mayr-Stihl und wurde 2020 durch die Deutsche Krebsgesellschaft e.V. (DKG) als Zentrum für Leukämien und Lymphome zertifiziert. Dank des sprunghaften Wissenszuwachses um die Biologie und die Entstehung von Lymphomen und Leukämien fanden in den letzten Jahren zahlreiche neue Medikamente Einzug in die Standardtherapien. Neben der klassischen Chemotherapie gehören zielgerichtete Medikamente mittlerweile zur Behandlungsroutine. Mit zahlreichen klinischen Studien kann das Klinikum Stuttgart Patient:innen den Zugang zu innovativen Therapien anbieten. Patient:innen mit einer Leukämie oder einem Lymphom werden in einer wöchentlichen interdisziplinären Tumorkonferenz besprochen. So kann individuell für die Patient:innen das optimale Behandlungskonzept festgelegt werden.
Seltene Krankheit: ZNS-Lymphom
Das primäre ZNS-Lymphom (PZNSL) ist eine sehr seltene Erkrankung aus der Gruppe der Non-Hodgkin Lymphome. In Deutschland erkranken jährlich 300 bis 500 Menschen daran. Meist sind es erwachsene, insbesondere ältere Menschen. Wie bei allen Hirntumoren können die Symptome ganz unterschiedlich sein. Sie hängen von der Größe und der Lage des Lymphoms ab. Von Patient:innen mit ZNS-Lymphom sind aber über 50 Prozent von Störungen und Beschwerden wie Lähmungen, Schwindel, Sprachstörungen, Persönlichkeitsveränderungen oder Kopfschmerzen betroffen. Warum und wie ein Lymphom im Gehirn entsteht, ist nicht vollständig geklärt. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass bei der Entstehung bestimmter Eiweiße des zentralen Nervensystems eine unkontrollierte Abwehrreaktion hervorgerufen werden kann, in deren Folge sich dann Lymphomzellen vermehren können. Des Weiteren könnten sowohl das Epstein-Barr-Virus (EBV) als auch das Humane Herpesvirus Typ 8 (HHV-8) eine Rolle spielen. Unbehandelt führt die Erkrankung oftmals innerhalb von Wochen und Monaten zum Tod.
Intensive Forschung hat Prognosen erheblich verbessert
„Die Behandlung der ZNS-Lymphome unterscheidet sich insofern von der Behandlung der anderen Lymphome, als dass viele der chemotherapeutisch wirksamen Medikamente nicht die sogenannte Blut-Hirn-Schranke überwinden und so auch nicht die bösartigen Zellen im zentralen Nervensystem erreichen und abtöten können“, erklärt Prof. Dr. Illerhaus. Einen zunehmenden Stellenwert auf diesem Gebiet habe die Hochdosischemotherapie und autologe Stammzelltransplantation gewonnen. Die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Illerhaus arbeitet intensiv im Bereich der Klinischen Forschung zum Thema ZNS-Lymphome. Sie kooperiert mit anderen nationalen und internationalen Studiengruppen und ist selbst federführend bei der Initiierung und Durchführung klinischer Studien. Die Therapie von Lymphomen hat sich dadurch so verbessert, dass ein ZNS-Lymphom heute als heilbar gilt. Knapp 90 Prozent der Patient:innen, die mit einer Hochdosischemotherapie und Stammzellentransplantation behandelt werden, haben auch nach fünf Jahren keinen Rückfall erlitten. Doch die Diagnose Krebs ist erst einmal ein Schock für die Betroffenen. Die Zuversicht und Erfahrung der Ärzte ist in dieser Situation lebenswichtig. „Ich habe der Patientin und ihren Eltern vermittelt, das kriegen wir wieder hin. Nach den Sommerferien würde Neele wieder zu Schule gehen“, erzählt Prof. Dr. Illerhaus. Doch erst einmal musste die Schülerin drei Chemotherapien, eine Hochdosischemotherapie und eine Stammzellentransplantation überstehen. „Neele hatte zwei Tumore in der Sehrinde des Großhirn, deshalb hatte sie auch die Sehstörungen“, so der Ärztliche Direktor, „durch die Chemotherapien und die Gabe von Cortison hat sich ihr Zustand aber schnell verbessert.“ Besonders freut den Arzt, dass seine junge Patientin die Chemotherapie so gut gepackt hat. „Als ich in ihr Zimmer gekommen bin, saß sie ganz entspannt auf ihrem Bett und hat auf ihrem Handy herumgespielt… so wie meine Tochter zuhause… Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass sie gerade eine Chemotherapie durchmacht.“
Zum Schulstart wieder fit
Die junge Frau selbst hatte nach den Gesprächen mit Prof. Dr. Illerhaus nie Zweifel, dass sie wieder gesund werden würde. „Alle haben mir Mut gemacht. Ich habe gedacht, ich beiße jetzt drei Monate die Zähne zusammen, dann ist wieder alles gut.“ Nur, dass sie wegen Corona niemand außer ihren Eltern und ihrem Freund besuchen kommen durfte, „war schon blöd“, erzählt die 19-Jährige und, dass die völlige Isolation während der Hochdosischemotherapie keine einfache Zeit gewesen sei. „Aber Ende Juli hatte ich nach drei Monaten Therapie endlich alles hinter mir und durfte nach Hause.“ Die erste Zeit zuhause in Leinfelden-Echterdingen war geprägt von den Nachwirkungen der Behandlung. Aber pünktlich zu Beginn des neuen Schuljahrs war sie wieder fit genug, um gemeinsam mit ihren Schulkameradinnen mit Vollgas Richtung Abi zu starten. „Ich habe dann auch noch einen richtig guten Abschluss gemacht“, freut sie sich bis heute. Inzwischen ist über ein Jahr seit dem Ende der Therapie vergangen. „Manchmal kann ich immer noch nicht wirklich verstehen, dass ich so krank war, dass das wirklich alles passiert ist“, meint Neele. Aber wenn sie mitkriegt, über was für „dumme und unnötige Sachen“ sich viele Menschen aufregen, dann weiß sie, dass die schweren Wochen im Krankenhaus sie doch geprägt haben. Demnächst wird die junge Frau mit einer Freundin für zweieinhalb Monate nach Australien aufbrechen. Die beiden wollen ein Auto kaufen und von Melbourne aus die Küste bis hoch nach Cairns fahren. „Viele meiner Freunde bezweifeln, dass das klappen wird. Aber ich denke: Ich habe den Krebs besiegt, dann werde ich auch das hinbekommen.“