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Wieder voll zurück im Leben

Erinnern kann sich Stefan K. nicht. Es scheint, als habe sein Körper entschieden, die dramatischtesten Wochen seines Lebens aus dem Gedächtnis zu löschen. Diese Wochen beginnen in einer Nacht im August 2014. Aus immer noch nicht geklärten Gründen stürzt Stefan K. fünf Meter in die Tiefe. Niemand bekommt diesen schweren Sturz nimmt und so dauert es fast zwei Stunden, bis der Notarzt am Unfallort eintrifft. 

Stefan K. ist nicht ansprechbar, die Sauerstoffsättigung ist sehr niedrig und sein Kreislauf instabil. In diesem Zustand kommt er um 3.38 Uhr im Schockraum des Klinikums Stuttgart an. Im Schockraum werden Patienten mit einem Polytrauma, also mehreren lebensgefährlichen Verletzungen, versorgt. Gemeinsam mit über zehn anderen Kollegen ist auch der Unfallchirurg Dr. Saffet Özkaya im Schockraum: „Wir versorgen als Zentrum für Schwerstverletzte jährlich 160 bis 200 Polytraumapatienten. Stefan K. hatte ein heftiges Polytrauma.“ Der Kreislauf war instabil und der Blutdruck im Keller. Für die Ärzte ein Zeichen, dass der Patient innerlich stark blutet.

Im Zentralinstitut für Transfusionsmedizin und Blutspendedienst werden Blutkonserven angefordert. Zehn Minuten später erhält Stefan K. über einen großen Katheter in der Halsvene, den Shaldon-Katheter, eine Massentransfusion an Blutkonserven und Gerinnungsfaktoren. Die Bilder des CTs zeigen den Ärzten das Ausmaß der Verletzungen. „Der Patient hatte Verletzungen an allen Körperregion, außer am Kopf“, sagt Dr. Özkaya. Mehrere Rippen sind gebrochen und verschoben. Die Atmung ist beeinträchtigt, weil durch die Rippenfrakturen Luft zwischen Lungen- und Rippenfell gelangt ist. Durch diesen Pneumothorax kann sich die Lunge nicht mehr entfalten und die Atmung verschlechtert sich massiv. Drei Brust- und ein Lendenwirbel, sowie fast alle Gelenke und Knochen des rechten Arms sind gebrochen. Auch der rechte Oberschenkelknochen hat bei dem Sturz einiges abbekommen. 

Wie die CT-Bilder zeigen, geht die Lebensgefahr von den Verletzungen am Becken und Abdomen aus. Durch den Bruch des Beckens wurden große Blutgefäße verletzt. Zudem blutet es aus der Leber. Nun ist klar, warum der Blutdruck des Patienten so niedrig und die Herzfrequenz so hoch ist. Um 5 Uhr wird der Patient in den OP gebracht und von den Spezialisten der Unfallchirurgie und Orthopädie eine Beckenzwinge angelegt. Dabei werden zwei Schrauben in die Beckenknochen eingebracht und über einen Rahmen außen miteinander verbunden. „Das Becken wird stabilisiert und komprimiert. Die Gefäße werden zusammengedrückt und die Blutungen gestoppt“, erklärt Dr. Özkaya. Bei Stefan K. reicht das aber nicht aus. Er ist weiterhin instabil.

Die arteriellen Blutungen können erst durch die Radiologen mit Hilfe einer Embolisation gestoppt werden. Dabei wird ein Katheter bis zur Blutung vorgeschoben und das blutende Gefäß verschlossen. Nun stabilisiert sich der Kreislauf und die Allgemeinchirurgen um Dr. André Schaudt  öffnen den Bauchraum. Der Bauch wird mit Bauchtüchern ausgestopft. Mit diesem sogenannten Packing wird die Blutung an der Leber gestoppt. 

Mit einem offenen Bauch wird Stefan K. auf die operative Intensivstation E2 gebracht. Er liegt im Koma und die Ärzte wissen, über den Berg ist er noch lange nicht. Dafür haben die Intensivmediziner zu viel Erfahrung mit Schwerstverletzten gesammelt. Mittlerweile sind die Eltern des Patienten und seine Freundin Fani im Klinikum angekommen. Sie ist so geschockt vom Unfall ihres Lebensgefährten, dass sie zwei Wochen arbeitsunfähig ist. Und das Bangen geht weiter. Die Allgemeinchirurgen führen mehrere Revisionsoperationen durch und legen zur Entlastung des Darms ein Ileostoma an, einen künstlichen Darmausgang. Drei Tage nach der Einlieferung kann die Bauchhöhle verschlossen werden. 

Das gebrochene Becken wird nach der Entfernung der Beckenzwinge von Dr. Özkaya und seinen Kollegen stabilisiert: Der hintere Beckenring mit einer minimal-invasiven Verschraubung und der vordere mit einem Fixateur. Dazu werden Schrauben oberhalb der Hüftgelenke eingebracht, über einen Stab und unter Druck verbunden. In den Oberarm werden Platten und Schrauben eingebracht, die Knochen stabilisiert und die Gelenke rekonstruiert. Erinnerungsstücke, mit denen Stefan K. sein Leben lang leben wird. Genau wie mit der Narbe an seinem Hals. Sie erinnert an die Tracheotomie, die nach drei Wochen auf der Intensivstation durch die Ärzte der Klinik für Hals,- Nasen- und Ohrenkrankheiten erfolgt. 

Leber und Nieren versagen

Es geht auf und ab. Stefan K., der in seiner Freizeit am liebsten in der Natur ist, schwebt zwischen Leben und Tod. Die Nieren versagen – eine Woche lang erhält er Dialyse. In seinem Zimmer auf der Intensivstation steht noch ein hochmodernes medizinisches Gerät mehr, welches ihn am Leben hält. Zehn Wochen nach dem Unfall diagnostizieren die Ärzte eine lebensgefährliche Blutvergiftung. Der Dünndarm wird nicht komplett durchblutet. Die Chirurgen zögern nicht lang und entfernen in einer Notoperation die abgestorbenen Teile des Dünndarms. Kaum ist die Hürde genommen, werden die Nerven von Stefans Familie auf eine neue Probe gestellt. Die Leber versagt. Die Haut des 35-Jährigen verfärbt sich gelblich. Und gerade als alles so dramatisch ist, wacht Stefan K. auf. Nach 40 Tagen im künstlichen Koma auf der Intensivstation. Dank ihrer Erfahrung bekommen die Ärzte und Pfleger der Intensivmedizin das Leberversagen in den Griff. Ein Hauch von Leben kehrt in das Gesicht  des 35-Jährigen zurück – seine Eltern haben nicht mehr daran geglaubt. 

Hilfe und Unterstützung erfahren die Angehörigen in der schwierigen Zeit von den Pflegekräften und Ärzten auf der Intensivstation. Wenn die Eltern und seine Lebensgefährtin Fani keine Hoffnung sehen, geben die Mitarbeiter Kraft und Zuversicht und ermöglichen Zeit. „Wenn meine Freundin Spätschicht hatte, durfte sie mich auch nach der Ende der offiziellen Besuchszeit besuchen“, erzählt Stefan K. Mitbekommen hat er davon nichts. In der Rückschau sagt er, dass sein Erinnerungsvermögen vielleicht bewusst abgeschaltet hat, um ihn zu schützen. 

Von der Reha zurück ins Klinikum

Bis Dezember 2014 hat er 43 Blutkonserven, 18 Einheiten gefrorenes Frischplasma und elf Thrombozytenkonzentrate erhalten. „Um diese Gesamtmenge an speziellen Blutprodukten herstellen zu können, benötigten wir insgesamt 105 Blutspenden mit der passenden Blutgruppe“, sagt Dr. Beate Luz, Ärztliche Direktorin des Zentralinstituts für Transfusionsmedizin und Blutspendedienst. Stefan K. hat die seltene Blutgruppe B und nur circa elf Prozent der Menschen in Deutschland haben ebenfalls diese Blutgruppe. 

Stefan K. will kämpfen, denn er weiß, dass er unendlich viel Glück gehabt hat. „Es ist ein Wunder, dass noch lebe!“ Als er das erste Mal frische Luft atmet, ist er überwältigt. Doch unter all seinen Lebensmut mischen sich Zweifel, wenn sein Körper nicht mit macht. Anfangs kann er kaum sein Smartphone oder eine Zeitung festhalten. Er muss wieder lernen zu essen, zu sprechen und zu laufen. An seiner Seite sind dabei immer seine Eltern und seine Freundin Fani. „Wenn man etwas Gutes in dem Unfall sehen will, dann, dass wir noch enger zusammengewachsen sind“, sagt er. Und wenn er aufgeben will, haben ihm die Mitarbeiter des Klinikums einen Strich durch die Rechnung gemacht – allen voran Dr. Harald Weng, Oberarzt der Intensivmedizin und die anderen Stationsärzte. „Er hat immer wieder dafür gesorgt, dass ich nicht aufgebe“, sagt Stefan K. Auch nicht als er, nach 107 Tagen Intensivstation und 15 Operationen, in die Frührehabilitation entlassen und nach einigen Wochen wieder als Notfall ins Klinikum Stuttgart eingeliefert wird. Er hat Probleme mit der Blase und den Nieren. 

Und obwohl alle gehofft haben, dass es nun bergauf geht, wartet schon der nächste Rückschlag. Während der stationären Reha in den Schmiederkliniken Gerlingen kämpft Stefan K. mit seinem Gewicht. Er ist auch heute noch ein sehr schlanker Mann, aber damals will sein Körper einfach nicht zunehmen. Er hat keine Kraft, bekommt Fieber und die Venen entzünden sich. Dies war der letzte Rückschlag auf dem Weg zurück ins Leben. Nach der stationären Reha folgte die ambulante in der Klinik Schmieder in Stuttgart. „Mein Ziel war es endlich nicht mehr von jemandem abhängig zu sein“. 

Ein Jahr nach dem tragischen Unfall beginnt er die Wiedereingliederung an seinem Arbeitsplatz. Seit November 2015 arbeitet er dort wieder 35 Stunden in der Woche als Logistiker im Lager. Es scheint, als sei er einfach in sein altes Leben zurückgekehrt – doch so ist es nicht. Das merkt auch ein Außenstehender, wenn der sonst so fröhliche Mann nachdenklich wird und vom Unfall und der Therapie erzählt. „Ich habe mich um 180 Grad gedreht. Das Leben ist mir etwas wert“, betont er. Er raucht nicht mehr, trinkt keinen Alkohol und verzichtet aufs Fahrrad fahren. Sein Becken sollte besser nicht nochmal brechen.

Besuch auf der Intensivstation

In diesem Jahr ist er nochmal als Patient ins Klinikum Stuttgart zurückgekehrt. Mit einem Netz hat man die Narbenbrüche behandelt.  Den Aufenthalt hat er genutzt, auch auf der Intensivstation vorbei zu schauen. Dort wo sein Leben so oft am seidenen Faden hing und Monitore sein Leben überwachten. Auch für die Ärzte und Pfleger ist es ein Wunder, Stefan K. gesund zu sehen, zu hören, dass er wieder arbeiten geht, Auto fährt. „Es ist auch für uns ein großer Moment“, sagt Dr. Weng. Es ist nicht das erste Mal, dass Stefan K. die Intensivstation besucht und doch fragt er jedes  Mal ungläubig „Habe ich wirklich hier gelegen?“. Er kann sich nicht erinnern.