Komplementärmedizin bei Krebs So individuell wie der Fingerabdruck

Als Pianistin ist Katja auf ihre Hände angewiesen. Als eine der ersten Krebspatientinnen nutzt sie deshalb ein neues Therapieangebot des Zentrums für Integrative Tumormedizin zur Senkung von Nebenwirkungen während einer Chemotherapie. Kühlmanschetten an Händen und Füßen mit konstanter angenehmer Temperatur sorgen während der Infusionen dafür, dass schädigende  Begleiterscheinungen wie eine dauerhafte Nervenschädigung (Neuropathie) verhindert werden können.

Bereits mit 6 Jahren sitzt Katja am Klavier. Vom Vater – selbst passionierter Klavierspieler – gefördert wurde aus einem Hobby bereits im Teenagealter der erklärte Berufswunsch. „Ein Klavierabend eines polnischen Pianisten hat alles verändert. Er spielte ein Stück von Chopin und ich wusste – das will ich auch!" Der Ehrgeiz war geweckt. Es folgten zahllose Übungsstunden und ein Musikstudium in Hamburg und Paris. Durch Zufall kam die junge Pianistin 1997 nach Stuttgart, von wo aus sie seitdem ihrem Traumberuf nachgeht. Krank war sie trotz physisch anspruchsvollem Job und Reisen aber nie wirklich: „Selbst wenn um mich herum alle eine Erkältung hatten und schnieften – auf mein Immunsystem und meinen Körper war immer Verlass – mich hat es eigentlich nie getroffen!"

Umso größer der Schock – die Diagnose Mammakarzinom. Beim Duschen fiel der 43-Jährigen ein abweichendes Verhalten der Brustwarzen auf. „Noch von meinem ersten Frauenarzt wusste ich, bei welchen Anzeichen eine ärztliche Abklärung notwendig ist und habe auch direkt gehandelt.“ Bereits am Tag der Untersuchung war klar: Es ist Brustkrebs. Eine Woche später stand die genaue Diagnose mit biologischen Merkmalen, Ausdehnung in der Brust und des Therapiekonzeptes mit der statistisch größten Heilungschance fest. Eine Brustkrebserkrankung erleidet im Laufe ihres Lebens etwa jede 9. Frau. Die 5-Jahres-Überlebensstatistik zeigt hierbei mit einer Rate von 87 %: Sehr viele werden wieder gesund. Eine Operation und 16 Einheiten Chemotherapie folgten. Der Berufsmusikerin war schnell klar, dass der Umgang mit den Nebenwirkungen etwas ist, das sie selbst in die Hand nehmen möchte. „Krebspatientin zu sein ist ein Vollzeitjob“, sagt sie und ergänzt: „Wenn ich selbst etwas tun kann und es gleichzeitig auch noch ein Medikament gegen Nebenwirkungen ersetzt, dann fühlt sich das für mich absolut richtig an.“

Schmerzen, Brennen, Kribbeln bis hin zu Taubheitsgefühlen an Händen und Füßen: Eine häufige Nebenwirkung der Chemotherapie bei Gabe taxanhaltiger Medikamente sind die chemotherapie induzierte Polyneuropathie (CIPN) und das Hand- und Fußsyndrom. Um eine dauerhafte Schädigung ihres Hand-Nervensystems zu vermeiden, mussten Lösungen her – das stand für Katja sofort ganz oben auf der Prioritätenliste. Ihre Hände – ihr Kapital und wenn Katja eines hat, dann einen starken Willen. Fündig wurde sie letztendlich mit einer Mischung aus Recherche und Tipps aus dem näheren Umfeld. Das Zentrum für Integrative Tumormedizin am Klinikum Stuttgart wurde 2020 gegründet und ergänzt das leitliniengerechte, reguläre Therapieangebot mit ausgewählten komplementären Verfahren. Im Fall von Katja besteht die Therapie-Erweiterung während der Chemo-Einheit aus einer konstant temperierten Kühlung der Hände und Füße mit dem Hilotherm-Gerät. Während Katja die anatomisch geformten blauen Manschetten an Händen und Füßen angelegt bekommt, listet sie die Vorteile gegenüber gängigen Methoden mit Kühlpads aus dem Gefrierfach auf und gibt, ganz nebenbei, ein paar Instruktionen an die Pflegerin, wie die Klettverschlüsse positioniert sein müssen. Es ist der elfte Behandlungszyklus mit Chemotherapeutika im Stuttgart Cancer Center – Tumorzentrum Eva Mayr-Stihl und Katja kennt die kleinen Problemstellen der Technik inzwischen ganz genau. „Die Kabel dürfen nicht abknicken und durch das Aufpumpen mit Wasser kann es passieren, dass die Manschetten sich lösen, wenn man sie nicht straff genug  befestigt“, sagt sie mit ruhiger Stimme. „Auch wenn es bei der Technik Optimierungspotenzial gibt, ist es kein Vergleich zur gängigen Methode der Kühlung mit Pads aus dem Gefrierfach, bei denen ja oft ein gegenteiliger Effekt erzielt wird“, ergänzt sie und Frau Dr. Gottfried erklärt: „Damit die Chemotherapeutika nicht bis in die Kapillaren der Extremitäten gelangen, wird die Gewebetemperatur gradgenau und konstant abgesenkt. So werden Durchblutung und Stoffwechsel verlangsamt, das Eindringen der Chemotherapeutika in die Extremitäten begrenzt. Das ist aber wirklich nur mit einer konstanten und ertragbaren Temperatur möglich. Kühlmittel aus dem Gefrierfach wirken kontraproduktiv. Aufgrund der punktuell schmerzhaften Kälte entfernt man sie nach kurzer Zeit, der Blutfluss wird in der Folge eher  gesteigert und genau der Gegeneffekt tritt ein – eine vermehrte Durchblutung mit hohen Konzentrationen an Zytostatika im Gewebe. Mit dem Medizingerät für Kältetherapie bleiben wir hingegen bei tragbaren konstanten 15°C.“

Bei einer Krebsdiagnose treffen erlerntes medizinisches Wissen und klinische Erfahrung auf ganz individuelle Erfahrungen und Wünsche der Patient:innen. „Sprechen wir über eine moderne Krebstherapie, sprechen wir immer auch über einen ganzheitlichen Ansatz“, so die Onkologin. „Ich muss die körperlichen Ressourcen und persönlichen Ziele meiner Patient:innen nicht nur kennen, sondern auch anerkennen – nur so können individuell-erfolgreiche Therapiekonzepte entstehen“, erläutert sie. Ergänzend kommt bei Katja ein Therapeutikum (Aconit-Öl) aus der naturheilkundlichen Expertise (Phytotherapie) zum Einsatz –  als äußere Anwendung zur Verhütung einer Neuropathie.

Das Nebenwirkungsmanagement bei therapiebedingten Beschwerden wie Geschmacksstörungen, Fatigue, Obstipation, Übelkeit oder Ängsten und Depressionen umfasst ein breites Angebot. Auch Akupunktur gehört dazu. Etwas, das Katja ebenfalls im Rahmen ihrer Behandlung im Klinikum Stuttgart schon ausprobiert hat. Sie testet das Angebot gemäß Empfehlungen von Frau Dr. Gottfried und was für sich für sie als nützlich erweist, wird beibehalten. „Es fühlt sich gut an, als Individuum gesehen zu werden. Ich fühle mich verstanden, angenommen und durch die ergänzenden Angebote auch ermächtigt. Ich kann etwas tun, das mir hilft und das ich nicht einfach vorgesetzt, sondern gut erklärt angeboten bekomme und für das ich mich bewusst entscheide. Ich habe jetzt einen Handlungsspielraum, der vorher nicht da war“, sagt sie und ergänzt: „Alleine der psychische Effekt des Anziehens der Kühlmanschetten hilft mir. Ich kann es – im wahrsten Sinne des Wortes – in die Hand nehmen.“

Nach dem heutigen Behandlungstag steht noch ein weiterer Tag am Tropf mit Zytostatika für Katja an. Darauf folgend: eine circa dreiwöchige Pause. „Kleine Erholung für die Zellen, bevor es weiter geht mit der Strahlentherapie und einer darauffolgenden Anschlussheilbehandlung“, sagt sie und schaut auf die blaue Decke, welche ihre Beine umhüllt. Anschlussthemen wie Östrogenersatz hat sie längst im Blick und bleibt doch im Hier und Jetzt und summiert: „Das Leben nach der Therapie wird sicher anders sein und Prioritäten werden sich verschieben. Aber alles hat seine Zeit. Heute und jetzt fokussiere ich mich auf die kleinen Schritte, die mir gut tun. Nach der Therapie etwas essen gehen und dann zu Fuß nach Hause spazieren.“ „Wieder Vertrauen zu ihrem Körper finden“, wie Katja es nennt, Zeit mit der Familie, ein bisschen reisen und natürlich Klavier spielen stehen dann auf dem Programm.

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