Als wäre nichts gewesen
Aus heiterem Frühlingshimmel trifft Dr. Sachs der Schlaganfall mit zunächst gravierenden Folgen. Die Thrombektomie des großen Gerinnsels in der Neuroradiologischen Klinik des Katharinenhospitals gibt ihm seine Lebensqualität zurück.
Anfang Mai 2015: In seinem Garten pflanzt der pensionierte Mediziner Dr. Werner Sachs eine Gewürzpflanze ein. Der ambitionierte Hobbykoch nutzt gerne frische Kräuter in der Küche. „Als ich aus der Hocke hochkam, merkte ich, dass ich meine rechte Hand und den Arm nicht mehr bewegen konnte.“ Schlaganfall! schoss es dem erfahrenen Internisten sogleich durch den Kopf. „Ich bin nicht in Panik geraten, habe nur gedacht: das passt jetzt aber gar nicht!“ Eigentlich ist ihm klar, was die Symptome bedeuten, dass es jetzt schnell gehen sollte – eigentlich, denn beim Schlaganfall gilt „Time is Brain“. Je länger es dauert, bis eine professionelle medizinische Versorgung einsetzt, desto mehr mangelhaft durchblutetes Hirngewebe geht unwiederbringlich unter. Aber Dr. Sachs geht nicht gleich zum Telefon, ruft nicht sofort den Notarzt. Stattdessen räumt der 67-Jährige erst einmal seine Gartengeräte auf, bringt sie in den Keller. Im Keller gelingt es ihm nicht die Tür zurück in die Wohnung mit der gelähmten rechten Hand zu öffnen. „Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich darauf gekommen bin, die Türklinke mit der intakten linken Hand zu betätigen.“ Und er telefoniert immer noch nicht, beginnt vielmehr das Abendessen vorzubereiten. Zwischendurch lässt sich die Hand auch wieder bewegen. Alles nicht so schlimm?
Der Schlaganfall, der sich im Garten abzeichnete, hat nicht nur die Lähmungserscheinungen ausgelöst, sondern offenbar auch zu massiven intellektuellen Defiziten geführt. Bei unserem Gespräch, ein Jahr später, zitiert Dr. Sachs den Bremer Neurobiologen Gerhard Roth, der gesagt hat: „Intelligenz ist kreative Problemlösung unter Zeitdruck“. „Unter den Auswirkungen des Schlaganfalls war mir das nicht mehr möglich.“An jenem Frühlingstag 2015 ist es schließlich seine Frau, die richtig handelt. Von unterwegs ruft sie ihren Mann an und bemerkt seine undeutliche, verwaschene Sprache. Danach telefoniert sie mit der im Haus lebenden Nichte und bittet die, nach dem Onkel zu schauen. Auch die Nichte bemerkt sogleich, dass da etwas nicht stimmt und schließt richtig auf einen möglichen Schlaganfall: „Du musst sofort ins Krankenhaus“, sagt sie und ruft den Rettungswagen. „In dem Moment war ich erleichtert und froh, dass sich jemand kümmert und mir die Entscheidung abnimmt“, berichtet Dr. Sachs. Immerhin bat er die Rettungssanitäter noch, ihn in die Stroke Unit des Klinikums Stuttgart zu bringen, die sich damals noch im Bürgerhospital befand. „Ich wusste, dass dort alle modernen Möglichkeiten zur Verfügung standen, um mir zu helfen.“
In der Stroke Unit, der speziellen Schlaganfalleinheit, lief sofort die routinemäßige Diagnostik an. „Im MRT war sehr deutlich ein großer Gefäßverschluss im Gehirn zu erkennen“, berichtete Prof. Dr. Hansjörg Bäzner, Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik. „Allerdings lag der Eintrittszeitpunkt des Schlaganfalls schon einige Stunden zurück, weil der Patient trotz seines profunden ärztlichen Wissens nicht rechtzeitig hatte handeln können.“ Das Zeitfenster für eine Lysebehandlung nach dem Schlaganfall, also die Auflösung des Thrombus mit einem gerinnungshemmenden Medikament, ist auf maximal 4,5 Stunden begrenzt.
Das wurde Dr. Sachs schließlich auch klar. „Die ganze Zeit hatte ich keine Angst gehabt. Aber als ein Arzt mir mitteilte, morgen früh fangen wir dann gleich mit der Reha an, und ich nicht an der Lyse hing, wurde mir bewusst, dass ich zu spät in die Klinik gekommen war.“ Die zu erwartenden Folgen, die sein künftiges Leben beeinträchtigen könnten, dass er nicht mehr Autofahren und nicht mehr in seinem Hobbykeller werkeln wird können, machten ihm dann doch Angst. So lag er noch wach, als schließlich die Tür aufging und er gefragt wurde, ob er bereit sei, sich in der Neuroradiologie einer Thrombektomie zu unterziehen. Professor Henkes wolle noch versuchen, den großen Thrombus zu entfernen. „Die Methode war damals noch neu, aber ich musste diese Chance ergreifen und habe sofort zugestimmt“, berichtet Dr. Sachs.
Bei dem von Professor Dr. Hans Henkes, dem Ärztlichen Direktor der Neuroradiologischen Klinik im Katharinenhospital, maßgeblich mitentwickelten Verfahren, wird ein Katheter von der Leiste aus unter Röntgendurchleuchtung bis ins Gehirn vorgeschoben. Mit Hilfe eines kleinen Metallkörbchen wird das Blutgerinnsel, das die Hirnarterie verstopft, dann herausgezogen. „Professor Henkes gehört zweifellos zu den Medizinern mit den meisten Erfahrungen mit diesem Verfahren“, urteilt Neurologe Professor Bäzner. Allerdings dauerte es einige Jahre bis die außergewöhnlichen Erfolge dieser sogenannten Stent-Thrombektomie in der Schlaganfallbehandlung bewiesen waren.
Anfang 2015 brachten dann gleich drei Studien aus den Niederlanden, aus Kanada und aus Australien den Durchbruch. Sie waren die Basis dafür, die Thrombektomie als neuen Standard in der Schlaganfallbehandlung zu setzen. Professor Henkes und sein Team haben heute einen Erfahrungsvorsprung von sieben bis acht Jahren und so werden Schlaganfallpatienten aus einem Umkreis von rund 100 Kilometern ins Stuttgarter Katharinenhospital gebracht. Über 300 Thrombektomien werden hier inzwischen pro Jahr durchgeführt, manchmal zwei oder gar drei gleichzeitig. Denn es gibt insgesamt auch nicht so viele interventionelle Neuroradiologen. Zudem sind die Vorhaltekosten ziemlich hoch. In einem Zentrum wie dem Neurozentrum des Klinikums Stuttgart müssen neben den Angiologie- und Kathetersystemen drei, besser vier Spezialisten zur Verfügung stehen, um eine 365 Tage/24 Stunden-Bereitschaft sicherzustellen.
„Wir wissen heute, dass bei einem Blutpfropf größer als acht Millimeter, die Lyse nichts bringt“, erklärt Professor Bäzner. „Gerade bei schweren Schlaganfällen zeigt die Katheterintervention frappierende Erfolge.“ Bei 30 bis 40 Prozent dieser Patienten gebe es wirklich sehr gute Ausgänge, was bei schweren Schlaganfällen früher undenkbar gewesen sei. Auch das Zeitfenster ist offenbar nicht so starr, wie allgemein angenommen. „Ist ein Hirngefäß verstopft, bilden sich oft zunächst Umgehungskreisläufe, das betroffene Hirnareal wird wieder durchblutet, Schlaganfallsymptome können sich sogar wieder zurückbilden“, so Professor Bäzner. „Allerdings brechen die Umgehungen meist sehr schnell wieder zusammen.“ So war es wohl auch bei Dr. Sachs, der zwischendurch seine rechte Hand auch wieder bewegen konnte.
Nach dem Eingriff lassen die Ärzte Dr. Sachs noch einen Tag im künstlichen Koma auf der neurologischen Intensivstation ausruhen. „Ich wusste sofort, wo ich war, als ich aufwachte, und auch der Schlaganfall war mir präsent“, berichtet er. „Kann ich noch klar denken?“, fragte er sich und begann von 100 bis 1 herunter zu zählen. Arme und Beine bewegen? Auch kein Problem. Wenige Tage später ist klar: Dr Sachs hat keinerlei neurologischen Defizite davongetragen – trotz der anfänglichen Schwere seines Schlaganfalls und trotzt der vergleichsweise langen Zeit bis zum Behandlungsbeginn. Eine Woche nach dem Eingriff wird er entlassen – als wäre nichts gewesen – und geht als erstes in die Stadt. Eine Reha ist nicht erforderlich, und einen Monat später fährt er mit dem Auto zum geplanten Urlaub in die Bretagne. „Ich bin unendlich dankbar dafür, dass das interdisziplinäre Team des Neurozentrums sich gemeinsam entschieden hat, die Thrombektomie noch zu versuchen. Das hat mir die Lebensqualität zurückgegeben, die ich schon verloren glaubte.“